Angehörigen eine Verschnaufpause verschaffen

Im Fokus

Ein Erfahrungsbericht aus dem Pilotprojekt «Ambulante Betreuung»

Unscheinbar wirkt der Altbau an der Berner Schwarztorstrasse an diesem unwirtlichen Märztag. Der Nieselregen mag das Seine dazu beitragen. Nichts deutet von aussen darauf hin, dass im obersten Stock dieses Gebäudes die Fäden für die Koordination von jährlich 15 500 Entlastungseinsätzen in 375 Haushalten im ganzen Kanton zusammenlaufen. Hier liegt die Geschäftsstelle des «Entlastungsdienst Schweiz – Kanton Bern» (Entlastungsdienst BE). Sein Ziel: Angehörigen von betreuungsbedürftigen Personen Freiraum zu ermöglichen, eine Verschnaufpause zu verschaffen und dadurch die Lebensqualität aller Beteiligten zu steigern. «Unser Dienst kommt dann zum Zug, wenn es in einem Betreuungs-System eine Beeinträchtigung gibt. Viele unserer Klient/innen stehen einkommenstechnisch nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Die Betreuung von Menschen zu sozialverträglichen Tarifen steht im Mittelpunkt», sagt Udo Michel, der Geschäftsführer. Er leitet den gemeinnützigen Verein, der ein Einsatzbetrieb des Zivildienstes ist.

Gefragt: Ruhe und Fingerspitzengefühl

220 Mitarbeitende zählt der Entlastungsdienst BE. Sie unterstützen betagte oder beeinträchtigte Menschen und deren Umfeld zuhause. Es sind vorwiegend Frauen mit unterschiedlichsten Berufsbiografien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie tragfähige Beziehungen aufbauen können und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Aber auch junge Männer in Zivi-Kleidung gehören zum Team. Der Entlastungsdienst BE ist Teil des Projekts «Ambulante Betreuung». Er bietet Zivis Einsatzmöglichkeiten an, die ein besonderes Mass an Fingerspitzengefühl und Flexibilität erfordern. Einer dieser Zivis ist der 29-jährige Tawan Pinworasarn aus Seftigen. Fingerspitzengefühl hat er in mehreren stationären Einsätzen im Gesundheitsweisen und in einem Altersheim erlernt. Und da er gerade an der Abschlussarbeit seines Studiums sitzt, ist auch Flexibilität vorhanden, um kurzfristig und stundenweise Einsätze zu leisten. Für den Entlastungsdienst BE geht er in verschiedene Haushalte zu Betagten, Menschen mit Beeinträchtigung und zu ihren Angehörigen. Zum Beispiel zu Patrick Wenger, einem Informatiker, der mit Parkinson lebt und bei sich zuhause in Uetendorf arbeitet.

Freiräume für die Angehörigen

«Vor 20 Jahren wurde bei mir Parkinson festgestellt. Zu Beginn war die Erkrankung nur ein Teil meines Lebens, aber allmählich drehte sich alles um sie», sagt der 52-Jährige. Wegen Parkinson lässt die Energie nach, das Sprechen ist anstrengend. Wenger erlebte viele Auf und Ab in den letzten 20 Jahren. Er hatte depressive Phasen, aber auch Besserung durch eine Operation vor sechs Jahren. Damals konnte er sogar mit seinem Göttibub von einer Brücke in die Aare springen und schwimmen gehen. Das Leben mit Parkinson ist nicht nur für ihn eine Herausforderung, sondern auch für seine arbeitstätige Partnerin. Sie benötigt zuweilen Abstand und Momente, in denen die Erkrankung nicht im Zentrum steht. Aber dann war da die Angst, dass ihrem Partner etwas zustossen könnte, wenn niemand vor Ort ist. Schliesslich entschieden sich die Wengers, Betreuung durch den Entlastungsdienst BE in Anspruch zu nehmen.

Mittagsgruss mit Saté-Spiessen

Seit ein paar Monaten kocht Tawan Pinworasarn über Mittag gemeinsam mit Patrick Wenger und kauft zuvor die Zutaten für ein vereinbartes Menu ein. Er isst mit ihm und tauscht sich mit ihm aus. Meist endet der dreistündige Einsatz bei einem Schachspiel. Und meist endet dieses Spiel mit Wengers Sieg. Klingt alles einfach, ist es aber nur auf den ersten Blick. Tawan Pinworasarn formuliert es so: «Im Unterschied zum Einsatz in einem Pflegeheim bin ich mehrere Stunden in der Privatsphäre der betreuten Person – ohne Ausweichmöglichkeiten. Ich bereite mich vor jedem Einsatz und besonders vor jedem ersten Einsatz vor. Ich kenne die Persönlichkeiten der Menschen nicht.»

Gut betreuen heisst auch, bereit zu sein, über sich zu lernen. Das Betreten der Privatsphäre bringt Ängste für die Betreuten, gerade wenn diese an Demenz leiden und Ängste in Form von Reklamationen zum Ausdruck bringen. Ruhe bewahren und im Konfliktfall Deeskalation herbeiführen ist wichtig. «Sich selbst unter Kontrolle zu haben und emotional zu besiegen ist die grösste Herausforderung», beschreibt es Tawan Pinworasarn. Der Entlastungsdienst BE ist sich dessen bewusst. Er klärt genau die Eignung für alle ambulanten Einsätze ab. Vor jedem Einsatz in einem neuen Haushalt gibt es zudem ein Erstgespräch, bei dem auch die Angehörigen anwesend sind.

Patrick Wengers Ehefrau weiss: Ihr Mann ist nicht alleine, sondern in guten Händen. Die beiden Männer setzen sich zu Tisch. Heute gibt es Saté-Spiesse mit Reis. Noch vor dem ersten Bissen macht sich Wengers Telefon bemerkbar. Er hatte seiner Frau ein Bild des angerichteten Menus gesendet und diese hat sogleich reagiert. Von Ferne aus nimmt sie am Essen teil.

Vom Rätsellösungsprogramm bis zu Sokrates

Wer ambulante Einsätze leistet, muss nicht nur flexibel sein und an verschiedenen Orten und Zeiten Einsätze leisten, er benötigt auch Offenheit und Bereitschaft zum Austausch mit ganz verschiedenen Menschen. Die Bandbreite der Gesprächsthemen zwischen Wenger und Pinworasarn könnte kaum grösser sein. So zeigt Wenger dem Zivi ein selbst gebautes Gerät, mit dem sich aufgrund von Rückkopplung der Wasserbedarf von Kohl messen lässt. Er programmiert Musik und entwickelt sogar Programme zur Rätsellösung. Aber auch Rätselhaftes aus der Philosophie interessiert beide: Woher kommt unser Denken über die Welt, das Leben und die Arbeit? Wo liegen Ursprünge dessen, was uns «normal» erscheint? Zwischen Fleischbissen fällt der Name Sokrates.

Mauerblümchen Betreuung

Solche Betreuung bedeutet eine Entlastung und Bereicherung für das Ehepaar Wenger wie für den Zivi. Aber sie ist alles andere als selbstverständlich. Udo Michel findet klare Worte: «Ich beobachte eine Industrialisierung und Ökonomisierung der Pflege.» Was nicht messbar ist, wird nicht finanziert. Der Mehrwert von menschlicher Betreuung und Entlastung von Angehörigen ist schwer messbar. «Der Betreuungsarbeit fehlt eine nationale Finanzierungslösung», schiebt Michel nach. Dabei steigt der Bedarf: «Betreuende Angehörige müssen mehr unterstützt werden aufgrund verschiedener langfristiger Trends», sagt Michel. Dazu gehören der demografische Wandel, die Zunahme von unterschiedlichen Familienkonstellationen, der steigende Anteil von Frauen im Erwerbsleben und – last but not least – der vermehrte Wunsch von Menschen, solange wie möglich selbstbestimmt zuhause zu leben.

Ein Projekt mit offenem Ausgang

Das Bundesamt für Zivildienst hat diesen Bedarf erkannt und ermittelt seit Ende letzten Jahres in Piloteinsätzen praktisch, ob Zivis eine zusätzliche Betreuungsressource sein können – mit offenem Ausgang. Denn ambulante Einsätze eröffnen neue Herausforderungen: Der Vollzug von Einsätzen in Teilzeit etwa, die Abrechnung von Einsatzstunden und die Führung im Einsatz. Dies sind auch Gründe, warum flexible und ambulante Einsatzformen bislang nicht regulär möglich sind. Sie stellen einen zusätzlichen Aufwand dar bei der Sicherstellung der vollständigen Dienstleistung und müssen mit Blick auf die gleichwertige Belastung im Dienst gegenüber den Einsatzpflichten anderer Dienstpflichtorganisationen sachlich gut begründbar sein.

Solche Fragen weisen über den einzelnen Einsatz hinaus. Klar ist bereits jetzt: Das Gesetz müsste angepasst werden, sollten die Einsätze regulär möglich sein. Der Pilot wird extern evaluiert, die Entscheidung obliegt dann dem Bundesrat. Egal wie der Entscheid ausfallen wird, für Tawan Pinworasarn war die Erfahrung ein Gewinn: «Ich würde bei einem solchen Projekt wieder teilnehmen und es jedem empfehlen, wenn die persönliche Situation stimmt und Flexibilität vorhanden ist. Ich bin nie frustriert nach Hause gegangen, auch wenn es herausfordernde Momente gab.» Sagt’s und entschwindet in den unwirtlichen Märztag, um den fremden Küchentisch gegen den eigenen Schreibtisch einzutauschen.

Im Rahmen des Projekts «Ambulante Betreuung» leisten derzeit mehrere Dutzend Zivis in der ganzen Schweiz ambulante Piloteinsätze, die von anerkannten Einsatzbetrieben angeboten werden. Sie unterstützen betreuungsbedürftige Personen und ihre Angehörigen. Der Bedarf an Betreuung zuhause und an Entlastung von Angehörigen nimmt zu. Ziel des Pilotprojekts ist es zu klären, ob und wie Zivildienstleistende künftig einen Beitrag zu diesem steigenden Betreuungsbedarf leisten können. Mehr Informationen finden Sie hier.

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